/ Tim Schröder

Statistik für die Seele.

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(Bild: AdobeStock)

Wer als Kind Mobbing oder gar sexuellen Missbrauch erfahren hat, leidet später häufig an psychischen Problemen. Mit statistischen Verfahren will Giusi Moffa herausfinden, welche Symptome im Laufe des Lebens zu schwerwiegenden Erkrankungen führen – damit Psychologen helfen können.

Sexueller Missbrauch und Mobbing gehören zu den schwersten Traumata, die Kindern und Jugendlichen widerfahren können – und leider kommt beides erschreckend häufig vor. Nach Schätzungen des Statistik-Dienstleisters Statista erfahren 14 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in der Schweiz heute Cybermobbing (Stand 2023). Und nach Expertenschätzungen werden elf Prozent aller Mädchen und fünf Prozent aller Jungen Opfer sexuellen Missbrauchs.

Die Folgen für Gesundheit und Psyche tragen viele Betroffene bis ins Erwachsenenalter. Sie reichen von anhaltender Müdigkeit bis zu Depressionen, Zwangsverhalten oder sogar Paranoia und Halluzinationen. Viele Betroffene benötigen psychologische Hilfe. Doch die Behandlung ist eine Herausforderung, weil bei vielen Opfern von Mobbing und sexueller Gewalt verschiedene Symptome zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben auftreten können.

Oftmals entwickelt sich aus einem Symptom ein anderes – aus Angstzuständen zum Beispiel eine Depression. «Für Fachleute ist es extrem schwierig, zu analysieren, welche Symptome später im Leben zu weiteren psychischen Problemen führen könnten. In vielen Fällen ist die Kausalkette nicht klar», sagt Giusi Moffa, Professorin für Statistik am Departement für Mathematik und Informatik der Universität Basel. «Das macht es für Psychologinnen und Psychologen schwierig, den richtigen Ansatz für eine Therapie zu finden. Wie kann man den Betroffenen helfen, um ihre Lebensqualität zu verbessern? Und welches Symptom sollte behandelt werden, um zu verhindern, dass sich daraus später ein noch schwerwiegenderes entwickelt?»

Studien mit 6000 Befragten.

Um Fachleuten neue Ideen für künftige Therapieansätze zu liefern, hat sich Giusi Moffa dem Problem von der mathematischen Seite genähert. Sie hat insgesamt 20 verschiedene psychologische Aspekte von Konzentrationsstörungen und Schlaflosigkeit bis zur Paranoia statistisch miteinander in Beziehung gesetzt, um Kausalketten zu bilden. Das Ziel: herauszufinden, welche Symptome am wahrscheinlichsten später zu bestimmten Folgeerscheinungen führen. Dafür hat Giusi Moffa, die auch Gastforscherin am University College London ist, zwei Befragungen von rund 6000 Personen aus Grossbritannien verwendet, die älter als 16 Jahre waren: In den Befragungen ging es um Erfahrungen mit Mobbing und um sexuellen Missbrauch. Auch gaben die Befragten an, ob bei ihnen bestimmte Symptome aufgetreten waren.

Kausale Zusammenhänge ergründen.

Diese Daten unterzog die Mathematikerin anschliessend einem speziellen statistischen Verfahren, das die verschiedenen Symptome zueinander in Beziehung setzt; in etwa so wie ein Stammbaum Familienmitglieder mit Pfeilen oder Strichen miteinander zu einer Art Grafik verknüpft. Fachleute sprechen dabei von einem Grafenmodell. Das Ergebnis der statistischen Berechnungen war ein sogenanntes Kausaldiagramm, das anzeigt, auf welches Symptom möglicherweise ein anderes folgt.

Der Trick des Verfahrens besteht darin, die Berechnung mehrfach durchzuführen und die verschiedenen Symptome immer wieder neu miteinander zu verknüpfen – so, als würde man die Stationen eines U-Bahnnetzes auf viele verschiedene Arten miteinander verbinden. Insgesamt liess Giusi Moffa das statistische Verfahren 10'000 Mal auf die Daten aus den beiden britischen Umfragen los. Das Ergebnis war dann sozusagen der grösste gemeinsame Nenner aller Kausaldiagramme – ein Grafenmodell, das die Ergebnisse aller 10'000 Durchläufe zusammenfasst und die stärksten Verbindungen zwischen den verschiedenen Symptomen anzeigt.

Anregungen für neue Therapieansätze.

Die beiden britischen Umfragen zu Mobbing und sexuellem Missbrauch enthalten bereits eine Häufigkeitsverteilung der verschiedenen Symptome – und damit implizit auch Informationen über die Wahrscheinlichkeiten, mit denen verschiedene Symptome miteinander oder nacheinander auftreten.

Eine ganz andere Geschichte ist es aber, daraus eine profunde kausale Beziehung zwischen den verschiedenen Symptomen herzustellen, auch weil es bei 20 psychologischen Aspekten eine gigantische Menge an unterschiedlichen Verknüpfungen gibt. Erst die statistische Verarbeitung bringt Ordnung in das Chaos. Je öfter das statistische Modell bei den 10'000 Durchläufen eine kausale Beziehung zwischen zwei Symptomen feststellte, umso farbiger erschien dann im Kausaldiagramm die Verbindungslinie zwischen beiden.

«Einige der Kausalzusammenhänge haben uns überrascht», sagt Giusi Moffa. So zeigte sich, dass es beispielsweise zwischen «Sorge» und «Zwangsvorstellungen» eine starke Verbindung gibt. Zudem tat sich eine deutliche Kette von «Müdigkeit» über «Konzentrationsprobleme» und «Sorge» zu «Halluzinationen » auf. «Diese Kausalketten sind noch nicht der Schlüssel zu einer erfolgreichen Behandlung psychischer Folgen von Mobbing und Missbrauch», sagt Giusi Moffa. «Sie können aber dabei helfen, neue Therapieformen zu entwickeln. Es ist durchaus denkbar, dass eine frühe Behandlung von Müdigkeit das Auftreten von Halluzinationen verringert.»

Für andere psychotische Erkrankungen wie etwa Paranoia liefern die Ergebnisse keinen solchen Anhaltspunkt. So stellen die Kausaldiagramme eine direkte Verbindung zwischen der traumatischen Erfahrung und der Paranoia her. «Damit ergeben sich im Grunde kaum Optionen für eine mögliche Therapie. Es wäre anders, wenn der Aspekt Paranoia tiefer im Netzwerk zwischen verschiedenen Kausalketten liegen würde», sagt Giusi Moffa.

Trotzdem setzt sie Hoffnungen auf die Ergebnisse ihrer Studie, die jetzt im Fachmagazin «Psychological Medicine» erschienen sind. «Wir haben darin mit ganz neuen Methoden Mobbing und sexuellen Missbrauch gemeinsam betrachtet und damit auch untersucht, wie sich beide Traumata in ihren Folgeerscheinungen gegenseitig beeinflussen. Es wäre grossartig, wenn die Ergebnisse jetzt tatsächlich neue Ansätze für Therapien lieferten.»

Erschienen in «Psychological Medicine» (2023), doi: 10.1017/S003329172300185X