/ Marcel Falk

«GPS, E-Banking und mehr – die Mathematik von Euler ist modern»

Seit mehr als hundert Jahren gibt die Euler-Kommission der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz die Werke und Briefwechsel des Mathematikers Leonhard Euler (1707–1783) heraus. Mit dem Erscheinen des letzten gedruckte Bands Ende Oktober beginnt zugleich ein Aufbruch ins digitale Zeitalter, erklärt der Basler Mathematiker Prof. Dr. Hanspeter Kraft.

Herr Kraft, die historische Aufarbeitung der Werke des Mathematikers Leonhard Euler (1707–1783) steht vor einem Wendepunkt …

Hanspeter Kraft: Die heutigen Möglichkeiten einer digitalen Edition mit extensiven Suchmöglichkeiten und inneren und äusseren Verlinkungen geben der Forschung und dem interessierten Laien ein Instrument in die Hand, welches das gedruckte Buch bei Weitem übertrifft. Die Herausforderungen sind allerdings enorm, insbesondere wegen dem Sprachmix (Latein, altes Deutsch und Französisch) und den vielen Formeln.

Wozu dient das digitale Angebot?

Die digitale Plattform OBE.digital (für Opera-Bernoulli-Euler) soll langfristig alle Werke, Briefwechsel und Notizbücher nicht nur von Euler, sondern auch von den Bernoullis und deren Umfeld enthalten. Dazu kommen auch Originale, Verzeichnisse, Sekundärliteratur und mehr. Alles wird «open access», also frei und kostenlos zur Verfügung stehen. Daher können sich auch interessierte Personen ohne Fachkenntnisse mit diesen Materialen beschäftigen und nicht nur die Expertinnen und Experten.

Auch mehr als 300 Jahre nach seiner Geburt ist Leonhard Euler bekannt. War er in seiner Zeit tatsächlich derart herausragend?

Es ist sicher richtig, Euler als den grössten Gelehrten seiner Zeit zu bezeichnen, und die meisten heutigen Mathematiker nennen ihn den grössten und produktivsten Mathematiker aller Zeiten. Es ist wirklich beeindruckend, was Euler in seinem Leben alles an absolut Neuem geschaffen hat, Ideen und Theorien, die vorher nicht einmal im Ansatz vorhanden waren.

Ist die Bedeutung vor allem historisch oder wirkt Eulers Werk nach?

Im Gegensatz zur Geschichte einer Naturwissenschaft, etwa der Biologie, wo sich das historische Interesse vor allem mit der Frage der Entstehung und der Herkunft moderner Begriffe beschäftigt, ist die Mathematik von Euler durchaus modern und auch heute von Bedeutung. Mathematische Ergebnisse werden nie falsch! Vielleicht verstehen wir sie später besser, dank neuer Erkenntnisse, oder sie erweisen sich als Spezialfälle eines umfassenderen Resultats, aber die bleiben dennoch richtig. Und es passiert immer wieder, dass klassische Resultate später erstaunliche Anwendungen finden, von denen man damals nicht einmal geträumt hatte. So gehen Ideen und Formeln von Euler bei Transportproblemen (GPS) ein, bei der Simulation des Blutkreislaufes oder beim E-Banking, wie wir in den drei kurzen Videos leicht verständlich darlegen.

Was erhoffen Sie sich für die Zukunft der Euler-Edition?

Ich hoffe sehr, dass wir junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler finden werden, die sich für diese moderne Editionstätigkeit begeistern lassen und voll einsteigen. Die Anforderungen sind allerdings recht hoch: Neben sehr soliden historischen Kenntnissen braucht es auch gute mathematische Grundlagen und die Bereitschaft, moderne digitale Methoden einzusetzen. Bleiben wir zuversichtlich!